Meinen ersten Jakobsweg bin ich 2016 gegangen, in einer Phase der privaten und beruflichen Neuorientierung – eine Zeit voller Fragen. Wie viele Erstpilger hatte auch ich mir den berühmten Camino Francés ab Saint-Jean-Pied-de-Port ausgesucht um mich auf einen rund 800 Kilometer langen Weg nach Santiago de Compostela zu begeben. Schon im Vorfeld hatte ich gehört, dass nicht wenige Pilger während ihres Jakobsweges zumindest einmal weinend am Wegesrand anzutreffen sind, weil sie mental oder körperlich an die eigenen Grenzen kommen. Klingt ja spannend, dachte ich mir…

Das mich dieses Schicksal schon vor meinem eigentlichen Camino ereilen würde, hätte ich niemals gedacht.
Zur körperlichen Vorbereitung bin ich mit zwei Freundinnen, die deutlich fitter waren als ich, zu einer Bergtour ins Lechtal aufgebrochen. Ich hatte meinen Rucksack testweise gepackt und meine ausgewählten „Camino-Schuhe“ getragen. Die Erfahrung war niederschmetternd: Mein Rucksack war viel zu schwer und meine Schuhe mindestens eine Nummer zu klein (was ich allerdings erst viel später verstanden habe). Außerdem bin ich nicht in meinem eigenen Tempo gegangen, weil ich vergebens versucht habe, mit meinen Freundinnen Schritt zu halten. So saß ich bereits nach 3 Stunden wandern total frustriert und mit schmerzenden Zehen am Wegesrand und habe geweint. Wie sollte ich jemals einen 800 Kilometer langen Jakobsweg schaffen, wenn mich diese Tagestour schon an meine Grenzen brachte? Selbst meine Oma meinte vor der Abreise noch zu mir: „Kind, ich glaube nicht, dass du es bis Santiago schaffen wirst.“ (Danke, Oma :-D).
Doch der Flug war gebucht und die Zeit eingeplant, also beschloss ich, es einfach zu versuchen. Ohne Selbstvertrauen, maximal verunsichert, mit den immer noch zu kleinen Schuhen und einem falsch gepackten Rucksack startete ich am 31.08.2016 in Saint-Jean-Pied-de-Port, am Fuß der Pyrenäen, noch vor Sonnenaufgang in einen brutal heißen ersten Tag.
Der Herbergsvater hatte uns nervösen Erstpilgern am Vorabend noch ein paar wertvolle Tipps gegeben. Vor allem wegen der anhaltenden Hitzewelle hat er uns ins Gewissen geredet, kontinuierlich Wasser zu trinken und zwar WIRKLICH alle zehn Minuten. Diesen einen Rat habe ich mir zu Herzen genommen und strikt befolgt. Ich bin nach wie vor der überzeugt, dass ich die ersten beiden Wochen, in denen es noch ungewöhnlich heiß war, nur dank dieser eindringlichen Bitte meines Herbergsvaters überstanden habe. Einige Mitpilger litten unter Erschöpfung, schlimmen Blasen oder Entzündungen und mussten pausieren oder entschieden sich dazu ihre Reise abzubrechen.
Auch ich hatte, dank meiner zu kleinen Schuhe, mit Blasen zu kämpfen und mein Körper brauchte mehr als zwei Wochen, um sich an die ungewohnte Belastung zu gewöhnen. Während andere Pilger abends begeistert erzählten, wie schön die Wanderung heute wieder gewesen sei, fragte ich mich manchmal, ob ich überhaupt denselben Weg gegangen bin. Ich habe nichts von der Landschaft wahrgenommen und genießen konnte ich das Wandern erst recht nicht. Für mich ging es gefühlt nur darum irgendwie durchzuhalten. Ich konzentrierte mich auf meinen schmerzenden Körper, die pochenden Blasen und darauf, meine Füße Schritt für Schritt vom Boden zu heben, um das jeweilige Etappenziel zu erreichen. Jede Nacht fiel ich erschöpft in einen fiebrigen Schlaf, während mein Körper tat, was er konnte, um bis zum Morgen halbwegs zu regenerieren. Ich war zu stolz ein Taxi oder einen Bus zu nehmen und aufgeben wollte ich erst recht nicht. Meine Oma sollte noch etwas länger auf meine Rückkehr warten :-). So kroch ich Tag für Tag in meinem Schneckentempo über den Camino. Da ich keine Unterkünfte im Voraus reserviert hatte, konnte ich zumindest flexibel Pausentage einlegen, wenn nötig.

Nach den ersten zwei Wochen wurden die Schmerzen allmählich weniger. Ich glaube, meine Schuhe haben irgendwann den Kampf gegen mich aufgegeben und sich von allein geweitet. Mit jeder Etappe wuchs ich an meinen Herausforderungen und durfte viele wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Das Pilgern durch die Meseta war für mich ein meditatives Erlebnis und keinen der Sonnenaufgänge über den endlosen Getreidefeldern möchte ich missen. Als sich jedoch meine (völlig unrealistischen) Erwartungen an den Ort Sahagún nicht erfüllten, wollte ich die Meseta rasch hinter mir lassen und León erreichen. Warum ich mir eine saftig-grüne Oase inmitten der damals eher trockenen spanischen Hochebene vorgestellt hatte, kann ich mir heute nicht mehr erklären. Also legte ich die letzten gut 50 Kilometer bis León an einem einzigen Tag zurück. ICH, die kleine, unfitte und pummelige deutsche Kartoffel, die zu Beginn noch im Schneckentempo und mit Schmerzen den Weg entlang gekrochen war, lief nun 50 Kilometer am Stück! Diese Distanz würde ich wahrscheinlich nicht wiederholen wollen, aber allein der Gedanke daran, dass ich dazu in diesem Moment stark genug war, gibt mir bis heute auf allen Wegen Kraft.
Am Ende habe ich es geschafft: Nach 33 Tagen bin ich gestärkt und zusammen mit neu gewonnenen Freunden in Santiago de Compostela angekommen. Nach der ersten Euphorie über die Ankunft dachte ich mir: „Es war großartig, aber einmal reicht. Nie wieder werde ich so eine lange Strecke zu Fuß gehen.“ Es dauerte jedoch nicht lange, bis mir klar wurde: „Das war nicht mein letzter Camino.“ (Und es sollte auch nicht mein längster bleiben.) Denn die Strapazen der Reise verblassen schnell und zurück bleiben vor allem die schönsten Erinnerungen: an die beeindruckende Landschaft, den magischen Sonnenaufgang, die Lieblingsunterkunft, das kühle Bier nach einem langen, heißen Wandertag oder die nahrhafte spanische Küche, die einem Energie für die nächste Etappe gegeben hat. Vor allem aber sind es die Menschen, die diesen Weg unvergesslich machen: die vielen Begegnungen und Gespräche und das Gefühl der Verbundenheit mit zuvor Fremden. Es sind die Tränen, die gemeinsam vergossen werden, manchmal vor Trauer und Rührung, viel öfter aber vor Lachen. Es ist die Unterstützung die man von Pilgern, den Herbergsbetreibern und vielen Freiwilligen unterwegs erhält. Eine nette Geste, ein Schluck Wasser oder ein Pflaster können manchmal die Welt bedeuten und einen schwierigen Tag in einen schönen verwandeln. Und nicht zuletzt ist es ist die neu gewonnene Stärke und das Vertrauen in sich selbst die den Jakobsweg zu etwas ganz Besonderem machen.

Mein erster Camino de Santiago war eine der herausforderndsten und zugleich schönsten Erlebnisse. Ich war stolz auf mich und wusste: Wenn ich diesen Weg schaffen konnte, dann kann ich alles im Leben erreichen. Gleichzeitig hätte ich viele schmerzhafte Erfahrungen durch eine andere Vorbereitung und vielleicht etwas weniger Stolz an mancher Stelle vermeiden können. Rückblickend hätte ich mir eine erfahrene Person an meiner Seite gewünscht, die auf meine individuellen Bedürfnisse eingeht, meine Bedenken versteht und ihr Wissen mit mir teilt. Stattdessen hatte ich mich vorab in Foren und Facebook-Gruppen informiert, ließ mich dort aber auch von vielen subjektiven Meinungen und persönlichen Erfahrungsberichten verunsichern. Jeder Camino ist einzigartig und wir alle haben eigene Bedürfnisse und Vorstellungen.
So ist die Idee von Camino Dreams nach und nach gewachsen. Mit jedem Weg, den ich gegangen bin, wurde auch mein Wunsch stärker, andere Menschen in ihrem Jakobsweg-Vorhaben zu unterstützen. Und ganz gleich, ob du dich entscheidest, alleine zu gehen, zu zweit, in einer Gruppe, mit oder ohne Unterstützung: Dein Camino gehört nur dir. Er wird dir viele Antworten geben, auch wenn es nicht immer die Antworten sind, die du dir vielleicht erhofft hast. Genau darin liegt seine Schönheit, die Herausforderung und die große Chance, mit jedem Tag ein Stück über sich selbst hinauszuwachsen.